Dieser Treckingbericht wurde in der "Esel Poscht" Nr. 4/99, dem Bulletin der Schweizerischen Interessegemeinschaft Eselfreunde (SIGEF) veröffentlicht.
Das Ziel
Im Sommer 1979 unternahm ich die erste Fernwanderung, heute etwas moderner „Trecking“ genannt. Der damalige Weg führte quer durch den Jura von Büsserach nach Genf mit Übernachtung in Hotels. Aufgestachelt durch meine Erzählungen darüber animierte mich fünf Jahre später ein Freund, mit ihnen von Brittnau/AG nach Verscio/TI zu wandern. Daraus entstand im August 1984 mit der Wanderung von Büsserach nach Verscio mein zweites grösseres Trecking. Damit war im wesentlichen die Nord-Süd-Achse der Schweiz bewältigt, und seither liess mich die Idee, auch die Ost-West-Achse zu begehen, nicht mehr los. Das Ziel bestand somit darin, diese Strecke zu bewältigen und dabei allen Widerwärtigkeiten zu trotzen; der Weg war das Ziel!
Der Weg
Wanderwege gibt es unzählige zwischen Bodensee und Genfersee. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege hat im Verlag Kümmerly + Frey sechs Bücher mit möglichen Routen harausgegeben, die Schweiz zu Fuss zu durchqueren. Meine Route lehnte sich an die südlichste davon an, an die Rhein-Rhone-Route. Da ich jedoch erstmals auch meine beiden Esel mitnehmen wollte, suchte ich nach Wegen, welche abseits von vielbefahrenen Strassen liegen. So bezog ich in meine Planung auch die Bücher „Säumergenoss“ und „Der grosse Walserweg“ ein. Daraus entstand die bereits in der „Esel Poscht“ Nr. 2/99 beschriebene Route.
Die Startschwierigkeiten
Bei meiner „Grauen“ kündigten sich bereits am Tag vor dem vorgesehenen Start Hufprobleme an (eitrige Entzündung am Ballen des linken Hinterhufs). Ich stand vor der Frage:„Starten oder abbrechen?“ Da mir der Verlauf der Entzündung einigermassen bekannt, alles organisiert und die erforderliche Zeit reserviert war, entschloss ich mich für „starten“. So begann die Wanderung wie vorgesehen am 10. Juli am Hafen von Rorschach. Notgedrungen passten wir das Tempo Grisellas Hufproblemen an und kamen somit langsamer als vorgesehen voran. Am Morgen des dritten Tages riefen wir dann den Tierarzt und verabreichten Antibiotika gegen die Entzündung, da sich der Eiterherd schlecht lokalisieren liess und ein Öffnungsversuch nicht erfolgreich verlief. Am vierten Tag, erst bei Kilometer 50 von geplanten 720, war dann endgültiger Stillstand. Wir konnten Grisella das Weitergehen nicht zumuten! Acht Tage warteten wir im St. Galler Rheintal, bis Grisella nach zwei weiteren Antibiotikaspritzen wieder normal abstehen konnte. Damit war natürlich ein grosser Teil unserer Zeitreserve dahingeschmolzen, ohne dass wir weitergekommen wären. Es war bereits hier abzusehen, dass das Ziel nicht in der vorgegebenen Zeit zu erreichen war.
Der Alleingang
Gestartet waren wir, wie in der „Esel Poscht“ 2/99 beschrieben, zu viert: 2 Männer und meine 2 Eseldamen Bimba (dunkelbraun) und Grisella (grau). Nach den Startschwierigkeiten kamen wir recht gut voran und erreichten am 28. Juli abends nach 10 Wander- und 9 „Stand“-Tagen Vals. Damit lag auch der erste alpine Pass, der Tomülpass, hinter uns. Im Verlauf dieses ersten Teilstücks von 215 Leistungskilometern zeichneten sich für mich verschiedene Interessenkonflikte ab. Einerseits waren Wege, welche für die Esel gut begehbar waren (weil grasbewachsen, weich) für den stark sehbehinderten Davide nur mühsam zu bewältigen. Die für Davide besser geeigneten Wege (weil breit, eben, mit Kies- oder Steinbelag) setzten jedoch den Eselhufen stärker zu. Andererseits musste ich meine ganze Aufmerksamkeit, die neben dem Führen der Esel blieb, meinem sehbehinderten Begleiter widmen. Für Erholung blieb dadurch für mich praktisch nichts übrig, meine Konzentration war von morgens bis abends gefordert. Dazu kam, dass eines der schwierigsten Wegstücke unmittelbar vor uns lag. Ich traute mir nach den vorangegangenen Erfahrungen nicht zu, diese Aufgabe zu bewältigen. Ich beschloss deshalb, den Weg ohne Davide fortzusetzen. Leider hat er dafür bisher kein Verständnis gezeigt, für mich einer der wenigen Wermutstropfen dieses Unternehmens!
Die schwierigsten Wegstücke
Fuorcla da Patnaul
Die geplante Route umfasste, wie bereits gesagt, rund 720 Leistungskilometer (500 Streckenkilometer, ca. 14'600 Meter Höhendifferenz). Davon kannte ich nur einen kleinen Teil, nämlich die Strecke Bosco/Gurin bis Guriner Furka (ca. 12 Leistungskilometer) von früheren Wanderungen. Das hiess aber auch, dass nicht alle Schwierigkeiten voraussehbar waren. Zwischen Vals und Vrin war der Pass „Fuorcla da Patnaul“ vorgesehen, mit 2773 m ü. M. der höchste Punkt der Route. Oben angekommen überwältigte mich ein Hochgefühl: „Jetzt kann mich nur noch der liebe Gott vom Ziel abhalten!“ Eine halbe Stunde später kam die Ernüchterung in Form eines riesigen Geröllfeldes mit so groben Steinen, dass es für die Esel kein Durchkommen gab. Natürlich hatten das die beiden schneller realisiert als ich und wunderten sich, dass ich noch etwa 200 Meter weit ins Geröllfeld vordrang, um doch noch einen gangbaren Weg zu finden - vergebens! Zurück auf die Leisalp und dort übernachten war das einzig vernünftige. Und es zeigte sich bereits am ersten Tag des Alleingangs, dass ich diesbezüglich für mich den richtigen Entscheid getroffen hatte!
Fuorcla de Seranastga
Um doch noch nach Vrin zu gelangen, wählte ich am folgenden Tag den Pass „Fuorcla de Seranastga“. Dieser wird kaum mehr begangen, Wegmarkierungen fehlen ganz. Über Weiden, Schneefelder und zuletzt auf Gemspfaden erreichte ich die Passhöhe (2637 m ü. M.). Hier war ein vierfacher, geladener Zaun für die Esel durchgängig zu machen! Nach einem Abstieg über steile Schafweiden erreichte ich gegen Abend die Alp Seranastga. Hier eröffnete mir die Schäferin, dass der Weg ins Tal (und damit nach Vrin) nicht „eseltauglich“ sei. Sie bot an, mir am folgenden Tag den Weg aus diesem offenbar nur für Schafe geeigneten Gelände hinaus zu zeigen. Herzlichen Dank, Assunta!
Fuorcla Lischeias
Geführt von Assunta stiegen wir am kommenden Tag auf den Pass „Fuorcla Lischeias“ auf. Ich erfuhr dabei viel über das Schäferleben auf der rechten Seite des Lumnezia-Tales. Auf der Passhöhe (2619 m ü. M.) hatte ich von Assunta willkommene Hilfe beim Unterqueren eines weiteren Vierfachzaunes. Noch immer geführt von der Lumbreiner Schäferin gelangten wir nach einem Abstieg auf die „Plaun la Galera“. Um auf die Alp Patnaul zu gelangen, musste ein weiterer Passübergang (2491 m ü. M.) bewältigt werden. Hier verabschiedete ich mich von Assunta mit dem Gefühl, eine aussergewöhnliche Frau kennengelernt zu haben! Nach einem weiteren Abstieg erreichte ich die Alp Patnaul und schliesslich Pardatsch, wo im Tal unten der Fahrweg endet. Aus geplanten rund 40 km zwischen Vals und Vrin, welche in anderthalb Tagen zu bewältigen gewesen wären, sind rund 80 km in 3 Tagen geworden!
Ein Höhenmeter in einer halben Stunde
Von Campo (Valle di Blenio) Richtung Dötra-Airolo wählte ich den direkten Aufstieg zum Pass „Cantonill“. Der Aufstieg war so steil, dass mir durch den Kopf ging: „Wenn das so weitergeht, bin ich bald im Himmel!“ Aber es sollte anders kommen. Nach über 500 Höhenmetern Aufstieg, ungefähr auf 1750 m ü. M., verlief ein Felsband quer über den Weg, ein Meter hoch, für die Esel nicht zu bewältigen. Rechts ausweichen war wegen Felsen und Bäumen nicht möglich, zurück wollte ich wegen der grossen Höhendifferenz nicht. So bahnte ich entlang der linken Bergflanke einen Pfad, nirgends breiter als zwei Fuss und rund fünfzig Meter lang. Nun lud ich das Gepäck beider Esel ab und hob es auf die Felsstufe hinauf, denn für bepackte Esel war der Pfad zu schmal. Nachdem ich den Weg zuerst selbst dreimal gegangen war (um ihn sicher nirgends zu verfehlen), wagte ich es und ging mit dem Leittier Bimba voraus. Grisella folgte uns allein, und wir erreichten den Weg oberhalb des Felsbandes. Esel wieder beladen und weiter - ein Meter in einer halben Stunde ist doch etwas zu wenig!
Passübergänge nach Italien und zurück in die Schweiz
Als äusserst schwierig erwiesen sich auch die Passübergänge ins italienische Val Formazza und von dort hinüber ins Walliser Binntal. Mehr als einmal dachte ich im Abstieg von der Guriner Furka nach Fondovalle ans Umkehren, und einmal weinte ich vor Angst, eine meiner Eselstuten durch Absturz zu verlieren! Wäre hier das Sturmgewitter losgebrochen, das 14 Stunden später mit Regen, Nebel und Hagel über das Zeltlager hinwegfegte, ich weiss nicht, ob ich noch je einen Bericht über dieses Trecking geschrieben hätte! Rückblickend darf ich jedoch trotz des sehr regnerischen Sommers von Wetterglück reden: Immer wenn ich mich in schwierigem Gelände bewegte, war mir wenigstens das Wetter hold!
Auch die beiden Pässe, die für die Rückkehr in die Schweiz zu überwinden waren, sind für Esel nur schwer zu bewältigen. Am Pass „Scatta Minoia“ und am Albrunpass erwies sich grobes Geröll als Haupthindernis, jeweils insbesondere im Abstieg.
Donkeyboy mit Bimba und Grisella im Binntal / VS zwischen Fäld und Binn
(Foto: W. & J. Gertsch, Muttenz / BL)
Die Verlängerung
Am 13. August, 2 Tage vor der geplanten Ankunft am Genfersee, erreichte ich Brig. Damit hatte ich alle 16 Passübergänge hinter mir. „So nahe am Ziel kann man doch nicht abbrechen, und nach einem gelungenen Menü verzichtet man doch nicht gerne auf das Dessert!“ sagte ich mir. In 5-6 Tagen sollte das Ziel zu erreichen sein, also entschloss ich mich spontan für eine Verlängerung. Vier Tage später als vorgesehen erreichte ich am 19. August um 11.30 Uhr in Villeneuve die Gestade des Genfersees.
Nach dem nässesten Tag die trockenste Nacht
An Regen mangelte es zwischen dem 10. Juli und dem 19. August eigentlich nie. Im St. Galler- und Appenzellerland hoffte ich auf Bündner Sonne, in Graubünden auf die Sonnenstube Tessin, dort wiederum auf ein sonniges Italien und später auf ein trockenes Rhonetal zwischen Walliser und Berner Alpen. Heute weiss ich: vergangenen Sommer gab es keine Sonnenstube! An Mariä Himmelfahrt (15. August) durchquerte ich den Pfynwald, Sprachgrenze zwischen Ober- (deutsch) und Unterwallis (französisch). Im Gartenrestaurant „Coeur de Finges“ (Milljeren) wähnte ich mich irgendwo am Mittelmeer: die Wärme, die nach Koniferen duftende Luft, die Stille, die Esel, der urchige, von Josianne liebevoll zubereitete Walliserteller... - nur die Olivenbäume fehlten, wir sassen unter Apfelbäumen!
Am folgenden Tag das pure Gegenteil: Schon beim Bepacken der Esel am Vormittag begann es zu regnen, und es regnete an diesem Tag nur einmal! Am frühen Abend wechselte ich unter der Rhonebrücke von Aproz die bis auf die Haut durchnässten Kleider, um abends wieder bis auf die Haut nass zu sein. Damit waren zwei meiner drei Wäschegarnituren bis auf den letzten Faden nass! Diese „Notsituation“ schien Philippe Kaesermann, im Auto auf dem Heimweg vom Arbeitsplatz, sofort zu erkennen. Er organisierte mir in Saillon einen trockenen Stall für die Esel und nahm mich bei sich auf. Noch selten habe ich eine warme Dusche und ein trockenes Bett so geschätzt wie an diesem Tag. Merci beaucoup, Msr. et Mme. Kaesermann!
Einige Zahlen
Die zurückgelegte Strecke beträgt 767 Leistungskilometer, bestehend aus 524 Streckenkilometern, 162 Zusatzkilometern für 16'200 Höhenmeter aufwärts und 81 Zusatzkilometern für 16'200 Höhenmeter abwärts (Ein Vergleich: die absolvierte Höhendifferenz von 16'200 Metern würde reichen, um zweimal von Meereshöhe auf einen der Achttausender im Himalaja und zurück zu steigen). Verteilt auf die 16 Übergänge und Pässe ergibt sich eine durchschnittliche Höhendifferenz von 1’000 Metern pro Übergang. Der Weg führte durch 3 Länder (Schweiz, Fürstentum Lichtenstein und Italien), in der Schweiz durch 7 Kantone (SG, AI, AR, GR, TI, VS, VD) sowie durch alle 4 Sprachregionen (deutsch, rätoromanisch, italienisch, französisch). Mitgeführt wurden etwa 75 kg Gepäck bis Vals, ab Vals noch ungefähr 50 kg. Zusammen mit den 260 Trainingskilometern im Jura haben wir somit zwischen dem 3. Mai und dem 19. August über 1’000 Leistungskilometer zurückgelegt, immer mit dem gesamten Treckinggepäck.
Dank
Nicht jeden Tag ist man in der glücklichen Lage, sich einen 15jährigen Traum erfüllen zu können. Mit der Ankunft in Villeneuve am Genfersee war für mich der 19. August 1999 ein solcher Tag: Der Weg war das Ziel, das Ziel war erreicht! Viele haben dazu beigetragen, dass ich mir diesen Wunsch erfüllen konnte, alle namentlich aufzuzählen würde den Rahmen dieses Berichts sprengen. Eine wichtige Voraussetzung schufen mir Beda und Renate mit ihrem Pferdetransporter: Die Zusicherung, mich überall zu holen falls etwas schief laufen sollte, war das moralische Fundament für mein Durchhalten. Bei der Planung erleichterte mir Herr Krüger von der Zollkreisdirektion Basel mit der unkomplizierten und kostenlosen Bewilligung für die Aus- und Wiedereinfuhr der Esel die Arbeit. Es gäbe noch vieles aufzuzählen: das Interesse des SIGEF-Vorstandes (mit Fritz Augsburger als Transport-Alternative), das Bieten eines Übernachtungsplatzes (Scheune, Stall oder Zeltplatz), die tierärztliche Betreuung, das feine Nachtessen in gemütlicher Atmosphäre, das Glas „suure Moscht“ oder das Bierlein oder der Kaffee unterwegs und die vielen ermunternden Zurufe wie „Belli Asinelli“ im Tessin oder „Bravo“ in der Romandie. Praktisch überall konnte ich mit meinen beiden Eseln Freude bereiten und kam dadurch zu unzähligen interessanten Begegnungen. Das allein entschädigt alle Strapazen, welche eine solche Wanderung mit sich bringt!
Literaturangaben
Rhein-Rhone-Route, Offizielles SAW-Wanderbuch, Kümmerly + Frey, Bern, 1981, ISBN 3-259-03404-8
Der grosse Walserweg, Gert Trego, Verlag der Weitwanderer, Oldenburg, 1996, ISBN 3-930187-00-0
Säumergenoss, Schweiz. Verkehrszentrale (SVZ), Ed. Schweiz im Wiese Verlag, Basel, 1994, ISBN 3-909164-09-9